„Alles, was den Menschen in Bewegung setzt, muss durch seinen Kopf hindurch!“,
soll ein Mann gesagt haben, der während meiner Schulzeit in der DDR als größter Sohn des deutschen Volkes verehrt wurde – Karl Marx. Was hätte Marx wohl vom Bodybuilding gehalten? Was versetzt Menschen in Bewegung, die Hanteln bewegen, sich an Latzügen auspowern und an Beinpressen schuften? Was geht ihnen durch den Kopf – vorher, währenddessen, danach? Gesundheit? Mag sein – aber dafür geht’s vielleicht auch ’ne Nummer kleiner, oder? Dafür schmiert man sich nicht mit brauner Farbe ein und geht auf einen Wettkampfbühne, um von einer mehr oder weniger qualifizierten Jury bei einer „Muskelshow wie auf dem Viehmarkt“ taxiert zu werden. Genau so hatte es die DDR-Tageszeitung „Junge Welt“ in den 1980er Jahren einmal formuliert. Allerdings galt dieser Verriss nur dem „kapitalistischen Bodybuilding“, nicht etwa der „sozialistischen Körperkulturistik“, die es auch in der DDR gab. Worin genau der Unterschied bestehen sollte, das konnten die Journalisten auf dieser Seite auch nicht erklären, denn die Wettkämpfe der Körperkulturisten im deutschen Osten liefen faktisch genauso ab wie die der Bodybuilder im deutschen Westen. Solche Wettkämpfe im Osten schlichtweg zu untersagen wäre bei der uneingeschränkten Machtfülle der kommunistischen Partei- und Staatslenker zwar möglich, ideologisch aber eher unklug gewesen. Einerseits, weil der ostdeutsche Kulturistik-Champion Peter Butze alte Dokumente aufgestöbert hatte, aus denen zweifelsfrei hervorging, dass sich schon der Übervater des kommunistischen Arbeitersportes, der 1944 von den Nazis hingerichtete Ringer Werner Seelenbinder, in den 1920er Jahren in Berlin an „Körperschönheits-Konkurrenzen“ beteiligt hatte und man daher fortan „nicht mehr so dagegen reden konnte“, wie Peter Butze mir gegenüber das einmal formulierte. Andererseits aber auch, weil sich in den „sozialistischen Bruderstaaten“ Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, ja selbst beim „großen Bruder“ Sowjetunion und insbesondere im Nachbarland Tschechoslowakei kein Mensch um solche ideologischen Spitzfindigkeiten kümmerte – dort nannte man eben Bodybuilding Kulturistik, genauso wie heute noch beispielsweise in Frankreich und Spanien.
Auf einer Wettkampfbühne ostdeutscher „Körperkulturisten“ ging es folglich nicht wesentlich anders zu als auf einer der westdeutschen Bodybuilder. Außerhalb der Wettkampfbühne schon – gewaltig sogar. Im deutschen Osten gab es keine Privatbetriebe. Die gesamte Produktion in Industrie und Landwirtschaft war staatlich reguliert und organisiert, ebenso wie die Presse, der Rundfunk, das Fernsehen, die Buchverlage – und der Sport. Niemand konnte einfach so mal eben einen Bodybuilding-Verein gründen und ihn zur Grundlage eines Bodybuilding-Monopols machen, wie das in den USA die Weider-Brüder vormachten – mit Werbung für die selbst produzierten Nahrungsergänzungsmittel, selbst produzierten Trainingsgeräte, selbst produzierten Trainingsratgeber in den selbst produzierten Bodybuilding-Magazinen des selbst gegründeten Verlages.
Natürlich bekamen wir all das auch im deutschen Osten mit – „Sportrevues“ und „Athletik-Sportjournale“ gelangten über Schleichwege auch in die DDR. An ihnen schieden sich oft die Geister. Es gab frenetische Fans des „westlichen Bodybuildings“, es gab aber auch die vorsichtig-kritische Distanz. Einer der bekanntesten DDR-Kulturisten, Peter Butze aus Karl-Marx-Stadt, pflegte die vollmundigen Werbesprüche für westdeutsche Nahrungsergänzungsmittel, die es in der DDR natürlich nicht gab, mir gegenüber mit den Worten zu kommentieren: „Wenn das alles stimmen würde, was da behauptet wird, dann hätten wir gar keine Muskeln haben dürfen – wovon denn?“Im tschechischen Marienbad erlebte ich, wie Athletinnen und Athleten aus dem Ostblock, die unter den Bedingungen des Ostblocks lebten, trainierten und sich ernährten, Bodybuilder des Westens besiegten – und anschließend die Proteinbüchsen verschenkten, die sie als Siegerprämie erhalten hatten. Sie waren es eben gewohnt, ihren Proteinbedarf mit Quark zu decken oder – wie der DDR-Kulturist Hans Löwe – täglich ein Kilogramm Fleisch zu essen. Hans Löwe, der Mitte der 1980er Jahre bei einem Sandow-Turnier in Marienbad Klassensieger geworden war, erzählte mir später, wie der damals beste bundesdeutsche Bodybuilder Jusup Wilkosz ihn Ende der 1980er Jahre in seiner ostberliner Trainingsstätte in Berlin-Buch besuchte und sich angesichts des spartanisch eingerichteten Raums in einem Jugendclub verwundert die Augen rieb.
Dass Jusup Wilkosz jedoch Hans Löwe in Ostberlin besuchte, dass die Bodybuilder zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs dazu fähig waren, frei von ideologischen Scheuklappen, die es in Ost und West gab, freundschaftlich miteinander umzugehen und voneinander zu lernen – das gehört für mich zu den faszinierendsten Aspekten dieses seltsamen Sportes Bodybuilding, von dem ich nach wie vor – und umso mehr, je älter ich werde – der Meinung bin, dass er vor allem aus einem Grunde seltsam ist: Er ist der beste!
Zu den privatesten Gründen, die mich zu dieser Feststellung veranlassen, gehört der Umstand, dass ich mit Sonja die Frau, mit der ich den Rest meines Lebens teilen möchte, während einer Bodybuilding-Meisterschaft in Österreich getroffen habe. Später sagte mir der Veranstalter, er habe den österreichischen Natural-Bodybuilding-Verband gegründet, weil ihn das erste meiner Bücher, „Natural Bodybuilding“, dazu motiviert habe.
Erfolgreicher hätte dieses Buch somit nicht sein können.